1967-1974: Vier Wendepunkte

In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wirkten sich die sozialen und politischen Veränderungen in Westdeutschland wie in Griechenland auf das Leben von Migrant:innen aus. In dieser Zeit lassen sich vier Wendepunkte bei den Protesten festhalten, an denen griechische Migrant:innen beteiligt waren:

  • die Errichtung der Diktatur in Griechenland im Jahr 1967,
  • die weltweiten Proteste um 1968,
  • die Streikwelle in Westdeutschland im Jahr 1973,
  • die Ausbreitung von Protesten gegen die Bedingungen in den Unterkünften für Migrant:innen ab Anfang der 1970er Jahre.

Westdeutschland untersagte 1973 die Anwerbung von Arbeitsmigrant:innen. Die Einreise von Nicht-Deutschen, die zum Arbeiten nach Westdeutschland ziehen wollten, wurde vollständig blockiert. Familienzusammenführungen wurden allerdings unter bestimmten Bedingungen zugelassen: Familienangehörige von Migrant:innen, die bereits in Westdeutschland arbeiteten, durften nachkommen (Stokes, 2022). Die sich verbessernde finanzielle Lage Griechenlands führte des Weiteren dazu, dass immer mehr Menschen aus Griechenland nach Westdeutschland zogen, um dort zu studieren, oft mit Unterstützung ihrer Eltern (Papadogiannis, 2014).

In diesem Zeitraum gab es vier Wendepunkte bei den Protesten südeuropäischer Migrant:innen in Westdeutschland. Der erste bestand in den Nachwirkungen des Putsches vom 21. April 1967 in Griechenland, der eine Diktatur zur Folge hatte, die Griechenland bis zum Juli 1974 regierte. Deren politischen Gegner, die von der Linken bis zur gemäßigten Rechten reichten, wurden grausam verfolgt. In mehreren westdeutschen Städten bildeten sich Solidaritätskomitees für die Dissident:innen der griechischen Diktatur. An ihnen beteiligten sich Griechen und andere Migrant:innen, die ihrerseits gegen die in ihren jeweiligen Ländern herrschenden Diktaturen kämpften, wie z.B. Spanier (Clarkson, 2015; Christiaens, 2018). Es waren aber auch Westdeutsche beteiligt, die in der Regel den Sozialdemokraten oder der Kommunistischen Linken nahe standen. Vor allem der OEK (Omospondia Ellinikon Koinotiton, Verband griechischer Gemeinden in Deutschland) wurde in Westdeutschland zu einem Brennpunkt des antidiktatorischen Kampfes. Der OEK arbeitete bei seien Aktionen gegen die Diktatur dabei oft mit anderen Migrant:innen und deutschen Aktivist:innen zusammen (Papadogiannis, 2014).

Gleichzeitig brachen in Westdeutschland, wie in vielen anderen Ländern der Welt, rund um das Jahr 1968 Proteste aus. Auch wenn diese Aufstände unterschiedliche Ziele verfolgten, war der Kampf gegen den Imperialismus, insbesondere gegen die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Vietnamkrieg, doch ein Kernbestandteil der meisten von ihnen. Diese Proteste gingen auch an griechischen Migrant:innen in Westdeutschland nicht spurlos vorüber. Griechische linke Student:innen wie Kostas Papanastasiou schlossen sich den Teach-ins an, die linke Aktivist:innen 1968 gegen den Vietnamkrieg organisierten (Papadogiannis, 2014).

Die Streikwelle von 1973 war ein weiterer Meilenstein der Beteiligung griechischer Migrant:innen an Protesten in Westdeutschland. Ein Streik, der in ganz Westdeutschland für Schlagzeilen sorgte, war derjenige beim Neusser Automobilzulieferer Pierburg. Pierburg beschäftigte rund 3.000 Arbeiter, von denen 70% Migrant:innen aus verschiedenen Ländern waren: Griechenland, Spanien, Türkei, Portugal, Italien und Jugoslawien. Obwohl sie schwere Arbeit verrichteten, waren die meisten der Frauen der Niedriglohngruppe zugeteilt. Entsprechend verdienten sie nur 4,70 DM pro Stunde, während ihre männlichen Kollegen 6,10 DM für die gleiche Arbeit erhielten. Im Juni und August 1973 traten rund 2.000 Arbeiterinnen, meist Migrantinnen und einige Deutsche, in einen Streik. Die Polizei griff ein und verhaftete vor allem streikende Arbeiterinnen. Und doch gelang es diesen schließlich, die Abschaffung der Niedriglohngruppe und Lohnerhöhungen von 30 Pfenning für alle Arbeitnehmenden zu erreichen (Bojadzijev, 2012; Goeke, 2020).

Seit Anfang der 1970er Jahren breiteten sich die Proteste der Migrant:innen gegen die Bedingungen ihrer Unterbringung immer weiter aus. Bereits in den 1960er Jahren hatte die Frage der Unterbringung sie mobilisiert. Die Tatsache, dass männliche und weibliche Ehepartner oft in verschiedenen Wohnheimen bleiben mussten, war damals zentraler Protestgegenstand gewesen. Was in den 1970er Jahren neu hinzukam, waren Hausbesetzungen, bei denen sich auch Migrant:innen engagierten. Entscheidend war, dass Migrant:innen an der ersten Hausbesetzung in Westdeutschland überhaupt teilnahmen, nämlich 1970 in Frankfurt Westend. Darüber hinaus mobilisierten die Stadterneuerungsprojekte und die damit verbundene Härten insbesondere für Migrant:innenhaushalte in innerstädtischen Vierteln weitere Migrant:innen. Vor diesem Hintergrund kam es in den 1970er Jahren zu Hausbesetzungen, bei denen sich auch Migrant:innen mitengagierten. In der Folge, in den 1970er und frühen 1980er Jahren, kollaborierten dann radikale Westdeutsche immer wieder auch mit Migrant:innen bei Hausbesetzungen (Goeke, 2020).

Der westdeutsche Staat stand der Mobilisierung von Migrant:innen oft misstrauisch gegenüber und nahm zunehmend diejenigen ins Visier, die er als „Extremisten“ betrachtete (Slobodian, 2013). Dieses Misstrauen erklärt, warum auch der OEK zumindest bis Anfang der 1980er Jahre als „extremistische“ Gruppe behandelt wurde (Adamopoulou, 2022). Dadurch wurde es für griechische Migrant:innen noch schwieriger, sich an linken Aktivitäten zu beteiligen. In der Zwischenzeit änderte sich angesichts der wachsenden Protestaktivitäten der Migrant:innen die Haltung der Gewerkschaften gegenüber Migrant:innen. Die Gewerkschaften, die Migrant:innen zunächst weitgehend ignoriert hatten, nahmen sie nach und nach ernster. Sie entwickelten ihnen gegenüber in der Folge allerdings eine zwiespältige Haltung: Die Gewerkschaften unterstützten zwar das Anwerbeverbot von 1973, forderten aber auch Maßnahmen, um die Integration von Arbeitsmigrant:innen in die Aufnahmegesellschaft zu gewährleisten (Goeke, 2020).

Die vielfältige Zusammenarbeit zwischen migrantischen und westdeutschen Demonstrant:innen hatte auch kulturell-politische Nebeneffekte. So wurde die Musik, die griechische Migrant:innen bestärkte und mobilisierte, unter westdeutschen Aktivist:innen und in der breiten Öffentlichkeit weithin bekannt. Zu dieser Musik gehörte vor allem das Werk des Komponisten und prominenten Linken Mikis Theodorakis. Das der DKP (Deutsche Kommunistische Partei) nahestehende Plattenlabel Pläne, produzierte 1968 eine Platte mit seiner Musik, nachdem es die Texte ins Deutsche übersetzt hatte. Theodorakis’ Leben und Werk, bekannt für den Kampf gegen die Diktatur in Griechenland, wurde auch in Mainstream-Medien wie dem Magazin Der Spiegel und dem großen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD (Papadogiannis, 2014) vorgestellt.

Materialien

3, 4: Stills aus dem Film von Leyteris Xanthopoulos, Die griechische Gemeinde Heidelberg (1976). Mit freundlicher Genehmigung von Eleni Xanthopoulou.

5: Streik der griechischen und italienischen Arbeiter. Mit freundlicher Genehmigung des OEK.

6: Griechische Arbeiter beteiligen sich an einem Protest der IG Metall. Mit freundlicher Genehmigung des OEK.

7: Veranstaltung eines Solidaritätskomitees gegen die griechische Diktatur. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

8: Veranstaltung „Der Tod des Faschismus ist das Leben Griechenlands“. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

9: Veranstaltung „Freiheit für Griechenland“. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

10: Veranstaltung „Nein zum Faschismus“. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

11: Solidaritätswoche für den Kampf griechischer Studenten gegen die Diktatur. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

12: Veranstaltung „Der Fall Wallraff“. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

13: Veranstaltung „Faschismus in Griechenland! Italien? Deutschland?“. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung.